Ene, mene, muh und raus bist du

Der Schrei nach Strafen für Fehlverhalten bei Eltern und Kindern hallt durch die Kita-Welt. Vielleicht ein Schrei der Hilflosigkeit? Auf jeden Fall ein Schrei fachlicher Inkompetenz und ein fadenscheiniger Deckmantel für Exklusion von allem, was stört!

„Es könnte alles so einfach sein, wenn da nicht die lästigen Eltern mit den eigenen Alltagsproblemen wären. Und auch die Kinder werden immer mehr zum Störfaktor, wenn sie nicht in den vorhandenen Rahmen passen“, treibt Karin Graeff, Vorsitzende des Landeselternausschusses Rheinland-Pfalz (LEA RLP) die Haltung, die ihrer Ansicht nach hinter dem Heidenheimer Regelkatalog steht, auf die Spitze. Sie und der gesamte Vorstand lehnen das Vorgehen der baden-württembergischen Stadt, durch ein vertraglich geregeltes Sanktionssystem hart gegen Familien durchgreifen zu können, kategorisch ab. Leider beschränken sich solche Praktiken keinesfalls auf andere Bundesländer. „Auch in Rheinland-Pfalz wurden uns bereits erste Konzepte zum geregelten Ausschluss verhaltensauffälliger Kinder vorgelegt“, weiß Graeff zu berichten. „Das gängeln unbequemer Eltern ist ohnehin keine Neuigkeit.“

In der Regel läuft es gut, aber…

„In einem Großteil unserer Kitas arbeiten Team und Träger familienorientiert und darüber sind wir sehr froh und dankbar“, stellt Gordon Amuser, stellvertretender Vorsitzender des LEA, klar. „Allerdings gehen bei uns auch täglich Meldungen ein, die ein deutlich anderes Bild zeichnen.“ Die Palette reicht von Regelverstößen bei den Wahlen von Elterngremien über Vernachlässigung von Trägeraufgaben und Verweigerung von Mitwirkungsrechten, bis zu verletzendem Verhalten in Kitas. Die Auflistung der Fehlverhalten und Sanktionspraktiken ist nicht abschließend.

Beim LEA melden sich nicht nur verzweifelte Eltern, sondern auch Kita-Personal, das die Zustände vor Ort nicht länger hinnehmen kann. Die meisten Fälle sollen anonym behandelt werden, weil die Betroffenen Angst vor weiteren Konsequenzen haben. Oft genug zu Recht, denn sobald sich beratende Instanzen, wie das Jugendamt, bei der Kita gemeldet haben, geht vor Ort die „Hexenjagd“ los. „Die Ursache für die Beschwerde ist in diesen Fällen dann nicht wirklich von Bedeutung“, erläutert Amuser. „Es geht nur noch darum, den „Maulwurf“ zu entlarven und mundtot zu machen.“ Schnell werden Gründe wie Fehlverhalten und Vertrauensverlust gefunden, um die Störenfriede unter Druck zu setzen oder gleich ganz aus der Kita zu schmeißen.

Das entspricht nicht gerade dem gesetzlich verankerten inklusiven Anspruch, der sich uneingeschränkt an alle Kitas in RLP richtet. Hier geht es immerhin darum allen Kindern entsprechend ihren individuellen Fähigkeiten gleiche Entwicklungs- und Bildungschancen zu bieten und das unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer weltanschaulichen und religiösen Zugehörigkeit, einer Behinderung und der sozialen und ökonomischen Situation ihrer Familie. Kitas sollen dabei berücksichtigen, dass jedes Kind auf seine Art besonders ist und Heterogenität, unterschiedliche Lebens- und Familiengeschichten sowie Individuen als Bestandteil des Kita-Alltages auffassen.

Heißt das, es gibt gar kein Fehlverhalten bei Eltern und Kindern?

„Doch, natürlich gibt es das und damit muss auch umgegangen werden“, betont Graeff. „Ein erster Schritt wäre es, von dem Begriff Fehlverhalten beziehungsweise der damit verbundenen ablehnenden Haltung wegzukommen“. In Rheinland-Pfalz gehört die Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zu den Grundpfeilern der frühkindlichen Förderung. Dabei geht es darum, für unsere Kinder in den Kitas einen Rahmen zu schaffen, in dem sie sich gesund entwickeln können. Wir haben auch eine gesetzliche Definition, wer dafür zuständig ist: die Verantwortungsgemeinschaft bestehend aus Eltern, pädagogischen Fachkräften, Leitungen und Trägern der Tageseinrichtung sowie die Jugendämter auf örtlicher und Landesebene. Der LEA hält die Arbeit an der Qualität der Zusammenarbeit der Verantwortungsgemeinschaft für die zielführendste Möglichkeit sogenanntem Fehlverhalten zu begegnen. Die Eltern sind dabei keine Konsumenten einer Dienstleistung Kita, sondern Partner auf Augenhöhe. „Überall dort, wo das nicht oder nicht in ausreichendem Maße gelebt wird, hören wir von Unstimmigkeiten zwischen Kita und Familien und dem Wunsch, diese durch Exklusion von Kindern oder Eltern aus dem Weg zu schaffen“, so Graeff. „In solchen Kitas erleben wir besonders häufig die noch immer präsenten Bedenken, Kinder vor ihrem zweiten Geburtstag in eine Einrichtung zu geben“.

Exklusion als unpassendes Überdruckventil

Wenn das Verhalten von Kindern oder Eltern in den Kitas nicht in die eigene Vorstellung passt und als störend empfunden wird, richtet sich der Blick – mit Recht – auch auf die Strukturen im System.

Natürlich steht hier der Personalmangel ganz oben auf der Liste. Dieser gehört definitiv zu den größten aktuellen Herausforderungen für das gesamte Kita-System. Das heißt jedoch nicht, dass er als Rechtfertigung für fachliche und rechtliche Fehltritte herangezogen werden darf. In Rheinland-Pfalz haben Vertreter:innen aller Interessensgruppen des Kita-Systems ein Kompendium zur Fachkräftesicherung und -gewinnung erarbeitet. Dort werden zahlreiche wichtige und vor allen Dingen kurzfristig umsetzbare Lösungsansätze gegen den Personalmangel vor Ort zusammengetragen. Die konsequente Umsetzung des Kompendiums, durch die Verantwortungsgemeinschaft, muss jetzt oberste Priorität haben.

Auch das alte Lied von der „störenden“ Beitragsfreiheit wird wieder gesungen, sobald etwas in den Kitas nicht rund läuft. „Dieses Lied war schon immer ein misstönendes“, weiß Amuser zu berichten: „Die Elterngebühren, die es in Rheinland-Pfalz einmal gab, waren nicht zweckgebunden, sondern flossen in den allgemeinen Haushalt ab. Bei der jüngsten Debatte um die Wiedereinführung der Kita-Elternbeiträge war beispielsweise das Ziel, Geld für den Straßenbau zu generieren!“

Zudem hat die Binsenweisheit „Was nichts kostet, ist auch nichts wert“, die in diesem Zusammenhang immer wieder ins Spiel gebracht wird, in einem System, das Kindern gelebte Demokratie beibringen soll, nichts verloren. „Die Elterngremien auf allen Ebenen arbeiten grundsätzlich unentgeltlich und das oft viele Stunden die Woche. Wir denken nicht diese Arbeit sei nichts wert, nur weil sie nicht von der Kita entlohnt wird und der Kita hier somit keine Kosten entstehen“, führt Graeff aus. „Es geht doch um etwas viel Wichtigeres als Geld. Es geht um unsere Kinder!“ Ganz davon abgesehen, liegt die Strafen-Stadt Heidenheim in Baden-Württemberg, einem Bundesland ohne Beitragsfreiheit, was alleine die fragwürdige Aussage ad absurdum führt.

Statt längst überholte Strukturen und Machtpositionen zu verteidigen oder zurückzuholen, muss sich die Verantwortungsgemeinschaft – überall dort, wo das nicht bereits geschehen ist – dem gesellschaftlichen Wandel stellen und anfangen das zu tun, was schon in ihrem Namen verankert ist: gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Qualität, Quantität – eh zu spät?

Landeselternausschuss warnt vor kurzsichtigen Forderungen und verlangt stattdessen eine konsequente Umsetzung der bestehenden Möglichkeiten

Der Verband KiTa-Fachkräfte Rheinland-Pfalz erklärt in seinem Positionspapier die Kita-Betreuung in Rheinland-Pfalz als „weitab von Mindeststandards für eine gute pädagogische Qualität“ und dass eine kindgerechte frühpädagogische Bildung und Betreuung erst noch etabliert werden müsse. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen vor der qualitativen Abwärtsspirale und einem bevorstehenden Kita-Kollaps.

Dr. Karl-Heinz Frieden, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Gemeinde- und Städtebundes, hingegen schreibt, dass die Standards im Bereich der Kindertagesbetreuung zu hoch seien und „flexibilisiert“ werden sollten, um den weiteren Kita-Ausbau voranbringen zu können.

Na was denn nun? Erst Qualität? Erst Quantität? Oder ist es schon zu spät?

„Zu spät kann und darf es niemals sein. Denn das würde bedeuten, dass wir unsere Kinder aufgeben“, betont Karin Graeff, Vorsitzende des Landeselternausschusses Rheinland-Pfalz (LEA RLP). „Und was die Qualität-vs.-Quantität-Frage betrifft, haben wir nicht vor uns zu entscheiden!“
Unsere Kinder brauchen JETZT Bedingungen, unter denen sie sich gesund entwickeln und so später einmal zu aktiven und verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gesellschaft werden können.

„Wir können dabei weder erst auf Quantität setzen und dann mal schauen, ob wir die Qualität noch irgendwie nachholen können. Noch können wir erst mal abwarten, bis alle Faktoren für maximale Qualität vorliegen und bis dahin darf dann nur eine kleine Auswahl Privilegierter die Kita besuchen“, stellt Gordon Amuser, stellvertretender Vorsitzender des LEA, fest, denn beide Faktoren gehen Hand in Hand. „Wenn wir etwas Anderes propagieren, ist es für viele Kinder tatsächlich zu spät. Wir reden hier ja nicht von Kartons, die eine Zeit lang unter weniger idealen Bedingungen abgestellt werden, bevor das perfekte Lager entstanden ist. Diese modern vor sich hin! Wir reden von unseren Kindern und damit unserer aller Zukunft, die wir hier leichtfertig durch das Aufschieben des Notwendigen aufs Spiel setzen“.

Qualität und Quantität werden zur gleichen Zeit gebraucht. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Daher haben zahlreiche Träger, Leitungen, Fachkräfte und Eltern bereits lange vor Einführung des neuen KiTa-Gesetzes gehandelt. Sie haben ihre Kitas zukunftsorientiert aufgestellt und sich selbst darum gekümmert, dass sie den Rahmen bekommen, den sie vor Ort brauchen. Sie beweisen jeden Tag aufs Neue, dass es möglich ist. „Klar ist das Arbeit, aber es ist sicherlich eine lohnendere Arbeit, als ständig im Mangel zu agieren und so seinen Aufgaben nicht gerecht werden zu können“, führt Graeff aus. „Genau das passiert aber, wenn ich abwarte, ob ich irgendwann zum Handeln gezwungen werde. Oder wenn ich darauf warte, dass ein Gesetz vom Himmel fällt, das die Scherben wegräumt, die entstanden sind, weil ich in der Vergangenheit einfach nicht meine Hausaufgaben gemacht habe“.

Ein ganz wichtiges Instrument für alle Kita-Akteurinnen und Akteure ist das Kompendium des Aktionsforums Fachkräftesicherung und -gewinnung. Es wurde von den Vertreterinnen und Vertretern aller Interessensgruppen des Kita-Systems in RLP erarbeitet und enthält zahlreiche Ansätze, um mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen. „Wir haben mit Sicherheit noch nicht das perfekte Kita-System“, so Amuser. „Was wir jedoch haben, ist ein System mit vielen, den handelnden Personen zum Teil noch unbekannten, Möglichkeiten. Diese müssen wir gemeinsam nutzen, statt nur darauf zu warten, dass erst mal andere handeln, bevor wir selbst aktiv werden.“

Qualität, Quantität – eh zu spät? – LEA (lea-rlp.de)

SCHOCKIEREND, ABER LEIDER NICHT ÜBERRASCHEND

LANDESELTERNAUSSCHUSS ÄUSSERT SICH ZU „UNDERCOVER IN KITAS UNTERWEGS

Am 28.9.2023 war das „Team Wallraff“ auf RTL mit aufwühlenden Bildern aus Kitas in Deutschland zu sehen. Der Landeselternausschuss (LEA) begrüßt die Debatte, die dadurch ausgelöst wurde, und fordert die Verantwortungsgemeinschaft zum Handeln auf.

Kinder werden vernachlässigt, ausgelacht, sogar gequält. Und das von den Menschen, die Fachkräfte für Erziehung, Bildung und Betreuung sein sollten. In den Einrichtungen, in die Familien vertrauensvoll ihre Jüngsten geben, in denen sie sie sicher aufgehoben wähnen. Nicht in einer grauen Vergangenheit, irgendwo anders, sondern hier und jetzt in unserem Land.

Der LEA befasst sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Gewalt in Kitas. Ihn trifft der RTL-Bericht genauso wie jeder andere Fall von Kindesmisshandlung zuvor. Überraschen kann er allerdings nicht mehr.

„Wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwollen“, betont Karin Graeff, Vorsitzende des LEA. „Aber es ist erfreulicherweise auch nicht so, als würden wir bei null anfangen“. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren einiges auf dem Gebiet des Kinderschutzes getan: verpflichtende Kinderschutzkonzepte für jede Kita, die Einführung des Kita-Beirates, zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zum Thema sowie viele sehr engagierte Kita-Akteur:innen, die sich mit Herzblut für die Kinder einsetzen, sind nur einige Beispiele für die Bewegung, die durch das Kita-System geht.

„Das Thema ist in der Fachwelt kein Tabu mehr und das ist ein großer Fortschritt“, erläutert Gordon Amuser, stellvertretender Vorsitzender des LEA. „Berichte wie der von Herrn Wallraff erreichen hoffentlich, dass das auch bald für die breite Öffentlichkeit gilt“.

Die Ursachen für Gewalt in Kitas sind nämlich nicht alleine in den übergeordneten Strukturen zu finden. Denn Strukturen, die Gewalt an Kindern verhindern sollen, haben wir viele im Kita-System. Sie bewirken aber für sich alleine genommen nichts. Sie müssen von Menschen mit Leben gefüllt und umgesetzt werden.

„Worin wir ein großes Defizit sehen, ist die mangelnde Zusammenarbeit der Verantwortungsgemeinschaft in noch zu vielen Kitas“, stellt Graeff fest und greift den Appell der Kita-Fachkräfteverbände auf. „Nicht nur jede Fachkraft ist gefordert, sondern alle Erwachsenen, die Teil des Kita-Systems sind“.

Eltern, pädagogische Fachkräfte, Leitungen und Träger der Tageseinrichtung sowie die Jugendämter auf örtlicher- und Landesebene können vor Ort eine ganze Menge tun, um Situationen, wie sie in der Reportage zu sehen sind, zu verhindern. Sie sind es, die den Einblick haben. Zumindest sollten sie ihn haben, was leider viel zu oft nicht der Fall ist. Noch immer gleichen eine ganze Menge Kitas einer Black Box und es scheint nur Wenige zu stören, die dann auch noch mutig genug sein müssen, um gegen die Missstände anzukämpfen. Der LEA beobachtet sogar den Trend Eltern während der Bring- und Holsituation aus den Kitas auszuschließen. Statt dies als Alarm-Signal zu begreifen, scheinen die Handelnden vor Ort solche bequemen „Drive-in-Kitas“ sogar noch zu begrüßen.

Auch der Kita-Beirat wird in viel zu vielen Kitas nicht oder unzureichend genutzt. Normalerweise sollten hier mindestens einmal im Jahr alle Verantwortungstragenden zusammenkommen, um über Themen zu beraten, die z. B. Gewalt in Kitas verhindern könnten. Kinderschutzkonzept, Arbeitsbedingungen in der Kita sowie Qualität und deren Weiterentwicklung sind nur einige wenige Themen, die massiv auf die Sicherheit der Kinder einzahlen würden.

Den Fingerzeit auf Quereinsteiger kann der LEA nicht teilen „In vielen uns bekannten Fällen sind es gerade die Quereinsteiger gewesen, die mutig genug waren, Gewalt gegen Kinder zu melden“, führt Amuser aus. „Wir wünschen uns auch mehr Geld und mehr Personal für die Kitas. Aber vor allen Dingen fordern wir, dass JETZT die bestehenden Möglichkeiten im System konsequent genutzt werden und etwas passiert, damit unsere Kinder gesund aufwachsen können.“ Einige davon finden sich im frisch veröffentlichten Kompendium des Aktionsforums zur Fachkräftesicherung und -gewinnung.

Keine Zeit, kein Geld und ein zu hoher Aufwand dürfen nicht länger die Ausreden sein, sich nur oberflächlich mit den Kitas und dem was dort passiert auseinander zu setzen – für keinen von uns!